Zeit – Umstellung
Gestern wurde mal wieder die Uhr umgestellt. Wie jedes Jahr stöhnen die einen, dass sie deshalb morgens so schlecht aus dem Bett kommen, während andere sich darüber freuen, dass sie abends nun eine Stunde länger Helligkeit für ihre Outdooraktivitäten haben. Aber sehr viele werden diesmal nichts davon spüren, weil sie aufgrund von Corona-Ferien keinen Wecker stellen müssen und nach ihrer inneren Uhr leben können.
Und doch erleben wir alle eine „Zeit-Umstellung“ der anderen Art. Vieles, womit Menschen sonst ihre Zeit verbringen, ist momentan nicht möglich. Deshalb ist plötzlich viel freie Zeit da – etwas, das man sich eigentlich immer gewünscht hat.
Wer hat nicht schon mal gesagt: „Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich … mehr mit der Familie unternehmen, häufiger aufwendig kochen, mehr Sport treiben, mal wieder ein gutes Buch lesen, Kontakt zu alten Freunden aufnehmen …“

Jetzt ist die Zeit da, aber wie geht es mir damit, dass ich mir plötzlich so viele Zeit-Wünsche erfüllen kann?
Bewege ich mich wirklich mehr – gehe ich Wandern, Joggen, Fahrradfahren – oder bleibe ich auf dem Sofa sitzen und muss mir eingestehen, dass ich einfach ein Bewegungsmuffel bin und den Zeitmangel nur als Ausrede benutzt habe?
Und ist mir gutes, gesundes Essen die Mühe wert oder stelle ich vielleicht sogar fest, dass es mit meinen Kochkünsten nicht weit her ist und mir mein selbstgekochtes Essen gar nicht schmeckt?
Nehme ich das gute Buch oder den Telefonhörer in die Hand oder suche ich mir einen anderen Zeitvertreib?
Verbringe ich gerne Zeit mit meiner Familie oder geht sie mir eigentlich auf die Nerven?
Vielleicht ist jetzt also die Zeit, eine „Zeit-Inventur“ zu machen.
Welche Menschen, mit denen ich sonst meine Zeit verbringe, fehlen mir wirklich – welche Angehörigen, Freunde, Kollegen, Stammtische, Gruppen … vermisse ich? Warum fehlen sie mir? – Wegen ihres Interesses an mir? Wegen der anregenden Gespräche? Wegen der Hilfe und Unterstützung, die ich durch sie erhalte? Wegen der gemeinsamen Pläne und Projekte, die jetzt auf Eis liegen?
Wenn ich spüre, dass ich jemand sehr vermisse, werde ich dann aktiv und nehme Kontakt auf – oder bleibe ich passiv und bin später frustriert, wenn auch der andere sich nicht meldet? Warum werde ich nicht aktiv?
Und wenn ich feststelle, dass ich eine Person, Gruppe oder Aktivität gar nicht vermisse, vielleicht sogar froh bin, jetzt mal Ruhe davon zu haben – ziehe ich daraus Konsequenzen für die Zeit nach Corona und beende bestimmte Kontakte oder Aktivitäten, die mir nichts mehr bedeuten?
Jede Änderung der Lebensgewohnheiten braucht Zeit und ständige Einübung, bis sie zur Routine geworden ist. Vielleicht kann ich diese Krise als Gelegenheit nutzen, mir meine Wünsche ehrlich einzugestehen und dann den einen oder anderen Zeiträuber aus meinem Leben zu verbannen, um dafür mehr Zeit zu gewinnen für das, was mir jetzt wirklich wichtig geworden ist.
Armgard Diethelm